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Russische Musikerinnen und Musiker waren schon immer eine Klasse für sich, egal wo sie arbeiteten und lebten:
Die Geigerin Elena Prokhorova, die Cellistin Elena Zvyagina sowie die Pianistin Olga Makarova und der Pianist Mikhail Mordvinov gründeten sich anno 2013 in Berlin als MIECZYSŁAW-WEINBERG-ENSEMBLE. Ihre Besetzung schien prädistiniert vor allem für die Darbietungen von Klaviertrios, aber auch andere Kombinationen ließen sich in dem Zusammenschluss, das meiste freilich jeweils «kleiner», nach und nach verwirklichen; zumindest würde, wenn nicht unbedingt ein vierhändiges Stück auf dem Programm zu stehen hätte, ein Ersatzklavier einschließlich Pianistin oder Pianist bereit stehen, und ab und an konnte man ja auch einen Gast-Geiger verpflichten, je nachdem, ob oder wann ein Werklein für zwei Violinen zur Debatte stand.
Auf jeden Fall manifestierten sich, getreu des anspruchsvollen Namens, Auftrag und Profil dieser Kammermusikvereinigung:
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Ihr Namensgeber Mieczysław Weinberg «wurde 1919 als Sohn des Dirigenten, Komponisten und Violinisten jüdischer Abstammung Shmuel Weinberg geboren. Im 13. Lebensjahr wurde Mieczysław Weinberg in das Warschauer Konservatorium aufgenommen, wo er eine Ausbildung zum Pianisten erhielt, die er glänzend als Schüler von Professor Turczynski abschloss. 1939 wurde Weinberg zu Konzerten und zu einem Praktikum in die USA eingeladen, doch es begann der 2. Weltkrieg, und Weinberg musste buchstäblich zu Fuß nach Weißrussland fliehen. Beim Übertritt der Grenze wurde in seine Dokumente anstatt ‘Mieczysław’ der Name ‘Moisej’ eingetragen. Es gelang Weinberg unter größter Anstrengung erst viele Jahrzehnte später, seinen Geburtsnamen zurück zu erhalten. Seine Familie, die in Warschau zurückgeblieben war, wurde von den Nationalsozialisten umgebracht.
In Minsk schloss Weinberg das Konservatorium als Komponist bei Professor Zolotarjov, einem Schüler von Rimskij-Korsakov, ab. 1941 musste Weinberg erneut vor den Nationalsozialisten fliehen, diesmal nach Taschkent, da er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands eine Abweisung an die Front nicht verkraftet hätte.
In Taschkent heiratete Weinberg Natalja Michoels-Vovsi, die Tochter des großen jüdischen Regisseurs und Schauspielers Solomon Michoels. In Taschkent schrieb Weinberg Musik für das Usbekische Theater. Eines der bedeutendsten Werke von Weinberg, Kinderlieder oр.13 nach Versen von Itzik Lejb Perez, wurde in Taschkent komponiert. Die Erste Sinfonie, komponiert im Jahr 1942, schickte Weinberg an Schostakowitsch. Schostakowitsch sah die Partitur durch und setzte sich dafür ein, dass der junge Komponist möglichst bald nach Moskau übersiedeln konnte.
In Moskau lebte Weinberg bis zu seinem Tod im Jahr 1996. 1953 erlitt er Repressalien und musste für vier Monate ins Gefängnis. Schostakowitsch wollte die Befreiung Weinbergs erreichen und schrieb einen Brief an den damaligen Geheimdienstchef, Lawrentij Berija. Jedoch wurde Weinberg erst nach dem Tod Stalins aus dem Gefängnis entlassen. In den 60er Jahren heiratete Weinberg zum zweiten Mal.
Erstaunlich ist die Schaffenskraft von Mieczysław Weinberg. Weinberg verfasste u.a. 10 Opern, das Ballett Der goldene Schlüssel, Oratorien, Kantaten und ein Requiem, 26 Sinfonien, 17 Quartette für Streicher, ein Klaviertrio und ein Klavierquintett, etwa 30 Sonaten für verschiedene Instrumente, Orchesterstücke, über 100 Romanzen sowie über 1500 Stücke für Zirkus und Kino. Am bekanntesten sind seine Musik für den Kinofilm Wenn die Kraniche ziehen von Michail Kalatozov, für die Zeichentrickfilme Winnie Pooh und die Ferien von Boniface von Fjodor Chitruk.
1948 erlitt Weinberg das Schicksal vieler sowjetischer Komponisten, die des ‘Formalismus’, ‘Westlertums’ und der ‘Dekadenz’ beschuldigt wurden. Eines seiner herausragendsten Werke, die Oper Die Passagierin, das von den Häftlingen in Auschwitz handelt, war viele Jahre lang verboten und durfte nicht aufgeführt werden.
Weinbergs Kompositionsstil änderte sich mehrmals im Laufe seines Lebens. Einen enormen Einfluss auf sein Schaffen hatten die jüdische, russische und polnische Volksmusik, das Schaffen von Chopin, Schostakowitsch, Prokofjew, Mahler, Berg, Komponisten der Avantgarde und die polnische, russische und jüdische Literatur und Poesie. Lyrik, Geisteskraft, berührende Reinheit, Melodik und Humor sind ebenso Bestandteile seiner Werke wie Leidenschaft, Expressivität, rhythmische Vielseitigkeit, Ironie und kontrastreiche Dynamik. In der Melodik und Rhythmik Weinbergs erklingen traditionelle Intonationen und rhythmische Konfigurationen aus der jüdischen Lied- und Tanzfolklore. Die Kriegsthematik und humanistische Ideen waren sehr wichtig für den Komponisten, sie finden ihren Ausdruck in der überwältigenden Anzahl seiner Werke.
Die Werke von Weinberg wurden von David Oistrach, Emil Gilels, Leonid Kogan, Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestvenskij, Vladimir Fedossejev, Mstislaw Rostropowitsch, Galina Wischnewskaja, dem Borodin-Quartett und vielen anderen bekannten Musikern gespielt. Jedoch kam seit dem Ende der 80er Jahre das Interesse an Weinbergs Schaffen praktisch zum Erliegen. Der Grund dafür war politischer, historischer und soziologischer Natur: die Perestroika, Änderungen der Kulturpolitik und das Ausbleiben von Finanzierung sowie die Emigration vieler Kulturschaffender. Weinberg war sehr bescheiden, am Ende seines Lebens war er sehr krank. Er konnte sich selbst nicht um die Aufführung seiner Werke kümmern.
Die Renaissance der Musik Weinbergs begann am Ende des 20. Jahrhunderts mit einem Festival der Kammermusik Weinbergs 1999 in Moskau. Zu einer Sensation in Europa wurde 2010 das Festival in Bregenz, Österreich, wo die Bühnenaufführung von Weinbergs Oper Die Passagierin ihre Premiere erlebte und viele andere Werke des Komponisten gespielt wurden.»
(Quelle: Europäische Initiative für Kultur und Humanismus Mieczysław Weinberg e.V.)
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Dem 11-konzertigen Saison-Thema 2019/20 («Diktatur. Freiheit. Musik. 20. Jahrhundert. Russland — ein verlorener Schatz des Weltkulturerbes») waren dann gestern — außer den drei unterschiedlich langen resp. vielzu kurzen Kostproben des Jubilars — auch Werke von Valery Gavrilin, Oleg Ejges, German Galynin und Alexander Weprik, allesamt «vergessene» und hierzulande völlig unbekannte, vom Sowjetstaat seiner Zeit vernachlässigte, unterdrückte und verfolgte Zeitgenossen Mieczyslaw Weinbergs, verpflichtet — — diesbezüglich ein besonderer, ein Aufhorchen erregender Entdeckerabend, der dann insbesondere durch Ejges’ dritte, kompliziert-kompakt geratene h-Moll-Sonate für Klavier (gespielt von Makarova) oder Galynins grandioses d-Moll-Trio, bei dem endlich auch Cellistin Zvyagina (!) miterlebbar war, bestechen konnte.
Von Weinberg selbst gab es zwei jugendliche Albumblätter (eine Mazurka und ein Wiegenlied, gespielt vom Pianisten Mordvinov) sowie im Anschluss daran dessen Sonate für Violine und Klavier (von Prokhorova/Makarova gespielt), welche der 63jährige dem Angedenken seiner Mutter widmete, zu hören; und besonders repräsentativ schien diese Auswahl sicher nicht, bedenkt man, dass zu Weinbergs wichtigsten Werken allein dessen 17 (in Worten: siebzehn!!) Streichquartette zählen.
Weinberg’s «Wiederauferstehung» hat inzwischen längst begonnen, und man wird in Zukunft Weiteres und mehr von diesem großartigen Komponisten zu erleben haben; sicher auch durch das Hinzutun des sympathischen und umtriebigen MIECZYSŁAW-WEINBERG-ENSEMBLES.